EINE INTERVENTION IM RAHMEN DES PROGRAMMS DES KUNSTVEREINS BELLEVUE-SAAL:
Installation und Performance am 29. Juni 2024 anlässlich der Feier des im Frühjahr in der Friedrich-Ebert-Allee gepflanzten FLUXUSBAUMES.
Projektentwicklung und Anknüpfung
Aufbruch und Neuanfang
In einer Bewegung zwischen Inszenierung und Zufall, zwischen Absicht und Absichtslosigkeit markierte meine Performance "shred and clean up“ im Kunstsommer 2023 anlässlich FLUXUS SEXTIES den Dialog eines Ausstieges einer Künstlerin und eines Musikers aus alten Kategorien und Regeln im Wechsel von Fortschritt und Rückfall https://www.youtube.com/watch?v=bHOIZV3sFxs). Altes, Gewohntes – Kunstbegriffe, alte Konzepte, Musiknoten, Regeln, Erwartungen, Frames (auch jene durch Fake News wirkenden) in Schriftstücken oder Musiknoten manifestiert, wurden in der Performance im Kunstverein Bellevue-Saal geschreddert und schließlich zusammen mit dem Publikum in einer Raum greifenden Aktion weggekehrt.
Nach diesem Aufbruch stand für mich die Frage nach etwas von Dauer im Raum. Nach etwas, dessen Existenz eigene, nicht kulturell bedingte Auswahlmechanismen, Kategorien oder Regeln zur Grundlage hat. Das Ergebnis war der Verkauf des Geschredderten mit dem Ziel, von dem Erlös die Pflanzung eines Baumes in Wiesbaden zu finanzieren, verbunden mit seiner Feier in 2024 – zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern der Performance und der Öffentlichkeit.
Der FLUXUSBAUM war entstanden.
Sein Wachstum sollte mit einer Umarmung begleitet werden: Ich plante, eine Installation aus zwei Armen um den Baum herumzuführen – genauer um seinen Dreierbock, den neu gepflanzte Bäume erhalten, um seinen Stamm zu schützen. Eine Umarmung als Würdigung seiner Natur und seiner Dauer.
Realisation
Mit diesem Konzept kam es zu einer Anfrage beim Grünflächenamt in Wiesbaden wegen eines Platzes, der Pflanzung wie auch den Kauf des Baumes. Das Grünflächenamt reagierte mit dem Angebot, den FLUXUSBAUM in der Kulturmeile Wiesbadens, der Friedrich-Ebert-Allee, schräg gegenüber dem Hessischen Landesmuseum Wiesbaden zu pflanzen. Die Feier des Fluxusbaumes, sein erster Blattwuchs an dieser Stelle, wurde für den 29. Juni 2024 angesetzt.
Das Opening für die Feier wird vor dem Kunstverein Bellevue-Saal stattfinden. Von dort aus wird es einen Umzug geben, der von einer Tänzerin und einem Tänzer begleitet, zum FLUXUSBAUM in der Friedrich-Ebert-Allee hinführen wird. Über die durch den Bellevue-Saal geladenen Gäste hinaus, zieht der gesamte Umzug interessierte Passanten – Erwachsene und Kinder – in der Wilhelmstraße mit sich auf den Weg zum FLUXUSBAUM. Tänzerin und Tänzer wie ansonsten Teilnehmende und ich ziehen einen Leiterwagen hinter sich her mit großen und kleinen Gießkannen. Angekommen an der Pflanzstelle, eröffnen die Tanzenden – aus einer getanzten Umarmung heraus – die „Umarmung“ des FLUXUSBAUMES. Mit einem gemeinschaftlichen Gießen des Baumes durch die Besucher, Kinder und Erwachsene, wird der Baum feierlich in das Grün der Stadt Wiesbaden aufgenommen
Botschaft
Hinter der Pflanzung des FLUXUSBAUMES und seiner „Umarmung“ steht für mich die Überlegung, mit der davon ausgehenden Wirkung den Fokus auf die Kraft der Natur zu richten: Naturgesetzliches als etwas von Dauer hinter den von uns Menschen gemachten, dem Wechsel der Zeiten unterworfenen Parallelgesetzen und Regeln. Ein Baum als ein Sinnbild von Hoffnung innerhalb der aktuellen öffentlichen Diskurse oder auch als Denkmal für eine neue Sicht auf die Zusammenhänge – heraus aus gewohnten Frames in Anknüpfung an die Fluxus-Schredderaktion im Bellevue-Saal im Kunstsommer 2023.
Die Idee der Partizipation in Fluxus, der demokratisierenden Teilhabe der Öffentlichkeit an künstlerischen Prozessen so auch an einem soziokulturellen Diskurs, setze ich damit nach meiner Performance 2023 im Bellevue-Saal anlässlich FLUXUS SEX TIES in diesem neuen Projekt fort.
Die Installation am Dreierbock des Fluxusbaumes verbleibt dort ca. 5 Jahre bis zum Abbau des Dreierbockes.
Performance von Marie Luise Gruhne im Kunstverein Bellevue-Saal, anlässlich FLUXUS SEXTIES im Kunstsommer 2023, Wiesbaden mit dem Cellisten Cornelius Hummel
Der Boden ist raumfüllend mit Schredderpartikeln bedeckt, zeigt ornamenthaft den Grundriss eines Barockgartens – in der Inszenierung ist er Zitat einer ganz und gar künstlichen, erdachten Ordnung, mit der der Mensch seinerzeit suchte, die Natur zu bändigen und seinen Plänen anzupassen. Das im Bellevue-Saal, Wiesbaden auf dem Boden entwickelte Bild besteht aus geschredderten alten Briefen, Entwürfen, Musiknoten, Konzepten, Plänen. Wie all die anderen Intentionen, Erwartungen, Kategorisierungen in der Performance wird dieses Bild schließlich weggekehrt werden, für etwas Neues Platz schaffen.
Mein Konzept spielt mit dem Ansatz von Fluxus, ist eine Gratwanderung zwischen Inszenierung, Planung und Zufall: Eine bildende Künstlerin und ein Musiker begeben sich auf einen Weg, den eigenen Ansatz für ihr Kunstschaffen aufzulösen, Herkömmliches wegzukehren.
Wer genau hinsieht, erlebt kurze Dialoge zwischen den beiden Künstlern, bemüht mit einer gewissen Komik im Kampf um das Erhalten und Auflösen alter Ordnungen, zwischen Rückfall und Fortschritt wechselnd.
Mit einem ohrenbetäubenden Schreddergeräusch bricht die Künstlerin beim Schreddern alter Briefe und Konzepte in das melodische Spiel des Cellisten ein, stört seinen musikalischen Vortrag, erlebt schließlich selbst eine Störung bei der künstlerischen Vollendung ihres weißen Schredderkegels: Der Cellist, gehindert in seinem klassischen musikalischen Vortrag, schreddert seine roten Notenblätter und gießt diese über ihren weißen Kegel.
Der Versuch der Künstlerin, ihr „Kunstwerk“ wieder zu rekonstruieren, die roten Partikel zu entfernen, führt schließlich zu etwas Unerwarteten im Dialog mit dem Cello – zu einem Dialog des Zufalls, dem sich beide fließend überlassen.
Die Entwicklung von Spielräumen und Bewegung innerhalb festgelegter Ordnungen ist meine persönliche Antwort auf die Frage, welche Bedeutung Fluxus für die heutige Zeit haben könne.
Zusammen mit den Besucherinnen und Besuchern wird am Ende der Performance der „Barockgarten“ weggekehrt. Mit dem Verkauf des Geschredderten wird die Pflanzung eines Baumes finanziert, der im Herbst 2023 auf der Kulturmeile Wiesbaden in Kooperation mit dem Grünflächenamt gepflanzt werden wird: Der Fluxusbaum.
Besucherinnen und Besucher sind eingeladen, alte Schriftstücke und Konzepte mitzubringen, zu schreddern und zu Skulpturen und Bildern am Boden zu kehren bzw. in den „Pool“ von Schredderpartikeln einzuarbeiten.
Der Schauspieler und Regisseur Mario Krichbaum dreht während der 3 Performances ein Video, das im Bellevue-Saal gezeigt werden wird und die Interaktionen zwischen den Performances begleitet.
Architektonische Strukturen erinnern in meiner Arbeit universale Existenzmuster: Tragen und Lasten im Gleichgewicht, Gesetze der Schwerkraft, Naturgesetz. Ich greife sie auf als mentalen Impuls, spiele mit diesen archaischen Ordnungen, lege ein Portal hin – schützend umfängt es das Element Wasser –, bepflanze es mit Wildblumen für Bienen oder hänge ein Tor auf, bestücke es mit Federn, was seiner stabilen architektonischen Struktur zuwiderläuft, eröffne so einen Dialog zwischen naturgegebenen Gleichgewicht, Halt und dessen Vergessen.
In meinem Wandobjekten durchlebe ich prozesshaft diese Dialoge. Auf dem Hintergrund von Zufallsoperationen und einem Prozess von Malen und Schleifen gelange ich zu Ebenen weitgehender Absichtslosigkeit, das Material fordert seinen Seinsausdruck. Ich überlasse mich schrittweise seinen naturgegebenen Gesetzen. Kein Strich ist bewusst gesetzt. Die Kraft der Rückbindung an natürliche Ordnungen zu spüren und fühlbar zu erinnern, ist künstlerisches Ziel.
Ein Journalist bittet den Wirtschaftswissenschaftler Klaus Schwab auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2019, auf ein weißes Blatt ein Wort zu schreiben. Er möge ausdrücken, was er im Moment am schlimmsten erlebe in dieser Welt von Katastrophen – Klimawandel, machtpolitischen Entwicklungen etc..
Klaus Schwab schreibt nur ein Wort auf den großen weißen Bogen: Egoismus. Dann führt er dazu seine Diagnose aus: Die Menschen fühlen sich überfordert durch den schnellen Wandel. Sie fühlen, Sicherheiten zu verlieren. Hieraus entsteht die Abschottung - um nicht noch mehr Sicherheiten zu verlieren. Aus der Abschottung (und dem gefühlten Verlust von Sicherheit) resultiert Egoismus …. Es ist also nicht Stärke, die zu Übermacht, Besitzaneignung, wirtschaftlichem Wachstumsdrang, Effizienz- und Optimierungsstreben führt. Aus dieser Sicht gewertet ist der Auslöser jenes destruktiven Agierens Schwäche, Unsicherheit und auch Angst.
Der Philosoph Odo Marquard (https://www.nzz.ch/feuilleton/der-skeptische-optimist-1.18542270) wirbt für „Verzögerungen“ in Zeiten des schnellen Wandelns wie der Destabilisierungen: Er wirbt für Verzögerungen im Agieren, die durch die Kunst, Rituale, Rückwärtsgewandtes (nichts Altmodisches, sondern wurzelhaft Echtes – Bestand also) in uns Menschen ausgelöst werden können. Sie führten heraus aus dieser Schnelligkeit, hinein in ein Kraftfeld von Konstanz und Erhabenheit.
Und Hartmut Rosa schließlich spricht als Soziologe von Resonanzerfahrungen oder Resonanzachsen, die dem Menschen ein stabiles "In-der-Welt-Sein" ermöglichen. Er beschreibt ein Erleben (= Resonanzerfahrungen) in der Natur oder durch Musik, durch die der Mensch sich berühren lassen kann, er beschreibt dies als Resonanzachse, durch die der Mensch (wieder) Halt findet und aus dem aktuellen Suboptimierungsdenken heraus mit der Welt (offen – nicht weiter vorwärtsstürmend: meine Anmerkung) in Resonanz treten kann (https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-rosa-ueber-sein-buch-resonanz-entschleunigung-ist.1008.de.html?dram:article_id=347513).
Zusammengefasst geht es für mich hierbei in allem um Sehnsucht und Rezepte zum Wiederfinden einer verlorenen Stabilität, um verlorene Sicherheiten. Und es zeichnet sich so etwas wie das Erleben einer Sinnlosigkeit ab, diese Sicherheiten wiedergewinnen zu können auf den bisher genommenen Wegen.
Auf meiner Suche nach etwas Konstantem in ursprünglichen Kontexten – wie jenen Regeln und Gesetzen des Natürlichen unterhalb der von Menschen gemachten Parallelgesetzen – bin ich auf eine Besonderheit aufmerksam geworden. Ich spreche von architektonischen Strukturen, die seit jeher in den unterschiedlichsten Kulturarealen – in Gestalt von Tempeln, Toren oder auch Türmen – mit der Suche des Menschen nach etwas Konstantem, Haltgebenden in unserer Vorstellung assoziiert werden. Sie sind bildhafter Ausdruck der Suche des Menschen nach Orientierung und Stabilität. Kraftformen. Wir stehen davor und halte inne, fühlen Erhabenheit. Die von ihnen ausgehenden, in ihrer Tiefe für jeden von uns fast unerklärbaren Wirkungen erklären sich mir in der Weise, dass sich in diesen Strukturen sinnfällig die Gesetze der Schwerkraft, vorrangigste Grundlage und Bedingung unserer Existenz, visualisieren. Es ist wie eine Erinnerung von etwas immer Vorhandenem, etwas, das in uns unbewusst das Gefühl von Sicherheit hervorruft, einer Sicherheit unseres Bestandes. Wir fühlen uns ruhig, entspannen…
Die Öffnungen in der Gestalt des Tores oder Tempelportals ergänzen diese innere Botschaft um die Botschaft von der schöpferischen Möglichkeit des Menschen durch neue Blickwinkel oder auch Kontemplation, ein unter ablenkenden, auch destruktiven Entwicklungen verborgenes harmonisches „Dahinter“ – immer wieder aufzufinden und anzuknüpfen.
Ich habe schließlich diese Strukturen als geistigen Impuls – nicht also als Motiv – in meine Arbeiten aufgenommen, um diese Kraft zu erinnern.
Die Erinnerung jener natürlich gegebenen Stabilität oder Sicherheit in uns bzw. unserer Verbundenheit mit dem Natürlichen ist Ausgangspunkt in meinem künstlerischen Agieren – sei der Ansatz ein gesellschaftspolitisch, ökologisch oder vom Schwerpunkt mehr psychologisch oder philosophisch motivierter. In meinen Objekten versuche ich Spielräume entstehen zu lassen, die solche Resonanzerfahrungen möglich machen:
Ikarus (2018/2020) oder der Ikarus Tempel, als eine gesellschaftspolitisch ökologisch motivierte Arbeit, erinnert die Grenzen eines (unseres) unausgesetzten Wachstumsdrangs. Das Objekt erinnert an etwas Fliegendes mit seinen Federn. Es zeigt diese Federn aber auf dem Hintergrund bzw. in dem Rahmen einer architektonisch anmutenden Gestalt, einem Portal, das diesem Flug entgegenwirkt in seinem „stabilen“ Sein – dann aber wieder schwebt?
Die Arbeit visualisiert den Gegensatz, aber auch hoffnungsvollen Dialog zwischen einem menschlichen Streben, das die Gesetze der Natur innerhalb seines Effizienz- und Optimierungsstrebens ignoriert – im Höhen-Flug durch seine überzogenen Bewegungen den Halt verliert, seine eigene Existenzgrundlage vernichtend – und einer möglichen Rückbesinnung auf die Grundlagen unserer Existenz auf der anderen Seite, visualisiert durch jene uralten stabilisierenden architektonischen Strukturen. Strukturen, durch die dieser Höhen-Flug bildlich aufgefangen wird.
Das Objekt Ikarus spiegelt einen Dialog, in dem die menschliche Schwäche eines Ego ohne inneren Halt, einem „Halt-los“ agierenden Ego damit, durch einen wiederaufgefundenen Halt harmonisierend aufgefangen werden kann. Es erinnert Anknüpfungen – Anknüpfungsmöglichkeiten wie jene Resonanzerfahrungen des Menschen in der Natur, in Musik und Kunst, die nach Hartmut Rosa uns in ein stabiles „In-der-Welt-sein“ zurückzurufen vermögen.
In der in Planung befindlichen großen Installation mit „Ikarus“ erfährt dieser Ansatz eine Erweiterung.
Die Auflösung traditioneller Einordnungen und Bewertungen bei der Wahrnehmung von Sichtbarem führt mich in meiner Arbeit in unterschiedliche Auflösungsprozesse.
Wandobjekte und frei hängende Objekte
In den Wandobjekten entwickeln sich diese Prozesse dialogisch inmitten der Materie. Materie wirkt hierbei wie ein Regulativ: Ich gehe mit ihr in einen Dialog, lasse mich aus eigenen Intentionen heraus zur materiellen Substanz ziehen, überlasse ihr die Führung. Schleifen und Farbauftrag stehen im Wechsel nebeneinander - wie das Entdecken, Aufdecken und Freilegen von Materie unter einem Verdecktsein. Reliefhafte Strukturen erinnern an die architektonische Struktur eines Tempels, eines Tores oder auch eines Turms. Impulsgebend erinnern diese Strukturen an die nie endende (kontemplative) Suche des Menschen nach dem, was „Dahinter“ ist oder „Davor“..., dem Auflösen dessen, was seinem harmonischen „In-der-Welt-sein“ im Wege steht.
„procedere“ –
drei zweiseitige Objekte (2019):
Bemalte Umwicklung – umwickeltes Holz – Holz
Drei frei im Raum hängende Objekte spiegeln Auflösungen aus einem abgewandelten Blickwinkel: Drei Holzrahmen, traditionell jeweils Träger des Abbild tragenden Gewebes – klassische Basis einer künstlerischen Arbeit – , transformieren hier die ihnen eigene Form (als Quadrat oder Rechteck) zu einer metaphorischen Gestalt. An einen Tempel oder ein Tor erinnernd, spiegeln sie in ihrer veränderten Ausdrucksform den Weg einer Lösung aus einer klassischen untergeordneten Bildträger-Funktion. Innerhalb der Installation „procedere“ entgliedern sich die materiellen Substanzen eines klassischen Bildträgers bzw. Bildes durch die Abfolge: Bemalte Umwicklung – umwickeltes Holz – Holz. Materie geht dabei in einen Dialog mit ihrer Funktion, was materiell oder geistig als eine Auflösung einer „Verdeckung“, einer Überdeckung ihrer Substanz, verstanden werden kann.
„dietro di esso“(2017) – was ist “dahinter“?
Das Objekt visualisiert einen Dialog mit seinem „Verpackt- oder Bedecktsein“ – Was kann sich hinter klassischen Einordnungen und Bewertungsstrukturen eröffnen, was für uns erfahrbar werden? Auf der Höhe des Architravs drückt sich etwas von innen hervor, Kraft, die sich zu sammeln beginnt.
“good news” (2019)
ist gänzlich bedeckt mit einem Strudel aufregender Nachrichten, den “Bad oder Fake News“... Nachrichten, die einen möglichen Diskurs zersetzen, zur Destabilisierung demokratischen Lebens führen.
Die architektonische Struktur des Objektes bremst die Endlosschleife dieser Nachrichten, stellt das Ganze auf Anfang, setzt der Zersetzung Stabilität entgegen.
Wer in den letzten Monaten Gelegenheit hatte, Marie Luise Gruhne in Wiesbaden zu besuchen, um sich einen Eindruck von ihrer Kunst zu verschaffen, wurde in der Regel nicht gleich ins Atelier, sondern auf einen Dachboden geführt. Dort stand der Besucher – zunächst vollkommen alleine – in einem großen, weitgehend leeren und durch ein spitzzulaufendes Satteldach nach oben abgeschlossenen Raum.
Dessen konstruktives, von offen liegenden Sparren und Dachziegeln bestimmtes Erscheinungsbild vermittelte in seiner rohen Schlichtheit den Inbegriff eines Dachraumes, der aus konstruktiven Gründen unablösbar zum Haus mit seinen darunter befindlichen Wohnräumen dazugehört, der aber zugleich doch auch – um mit Michel Foucault zu sprechen – ein „Anderort“ ist, d.h. ein Ort außerhalb der ständigen Wahrnehmung, der aber zentral in unser Leben integriert ist. Als ein solcher „Anderort“ oder auch eine „Heterotopie“ ist der Dachboden der ideale Ort zum Ablagern von Gegenständen, die von den Hausbewohnern nicht oder nur temporär genutzt werden, darunter Erinnerungsstücke, die zwar ihren direkten Nutzen verloren haben, jedoch mit einer Vielzahl von persönlichen Erinnerungen behaftet sind.
Auch der Dachboden bei Marie Luise Gruhne war nicht leer, doch statt Kisten oder alten Gegenständen erblickte der Besucher ein einzelnes Objekt, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hatte: An der hinteren giebelseitigen Rückwand des Dachbodens erhob sich vor der rohbelassenen Ziegelwand ein strahlend helles, weißleuchtendes Gebilde, das wie das ätherisch-immaterielle Abbild eines Tores, eines Portals, eines Tempelportals, erschien. Die Wirkung war geradezu surreal und von einer starken Symbolkraft. Denn in der dämmrigen Abgeschiedenheit des Dachbodens wirkte dieses hell-leuchtende portalähnliche Gebilde wie aus einer anderen Welt und forderte den Betrachter geradezu demonstrativ dazu auf, inne zu halten und sich imaginativ in eine Welt außerhalb der engen Begrenztheit des Dachbodens aber auch des gesamten Hauses zu versetzen.
In seiner Fremdartigkeit, die so gar nicht zu einem Dachboden passte, und seiner würdevollen Erhabenheit, die durch die vollkommen reduzierte, stereometrische Form sowie makellose Helligkeit und Reinheit des Materials erzeugt wurde, entzog sich das portalähnliche Objekt einem schnellen interpretativen Verständnis und sorgte für ein stark retardierendes Moment, eine Stillstellung des gewöhnlichen Raum-Zeitempfindens und damit für einen Moment der Ruhe und der Selbstbesinnung. Wer sich auf diesen Moment der sich imaginativ ereignenden Außerkraftsetzung von Raum und Zeit einließ, konnte vor dem portalähnlichen Objekt zumindest ansatzweise jenen seelischen Zustand verspüren, den die griechischen Philosophen (so Aristoteles und Cicero) mit dem Begriff „Otium“, d.h. der schöpferischen „Muße“ (vom althochdeutschen „muoza“ bzw. mittelhochdeutschen „muoze“, im Sinne von „Gelegenheit“ bzw. „Möglichkeit“), und die Theologen der großen Weltreligionen mit den Begriffen „Kontemplation“ oder „Meditation“ beschrieben – Begriffe und Zustände, die nicht nur in unserer heutigen, sondern auch in früheren schnelllebigen Zeiten bewusst als ideeller wie praxisbezogener Gegenentwurf zur bestehenden, schon immer von Rastlosigkeit und Wandel bestimmten Welt formuliert worden sind.
Die solchermaßen durch das Tempelportal implizierte Aufforderung zum Innehalten ist aber zugleich auch eine Aufforderung zur Reflexion über die Bedeutung von Raum an sich, d.h. von Raum in seiner irdischen und transzendenten Erscheinung und in seinen verschiedenen Ebenen vor und hinter dem Portal. Und es ist ein Anstoß, über die Position von uns selbst in diesen verschiedenartigen Räumen nachzudenken, Räumen von denen wir nur teilweise physisch-körperlich Besitz ergreifen können, da sich der durch das Tempelportal bezeichnete ideelle, von einer zeitlosen Erhabenheit bestimmte Raum unserem haptischen Zugriff entzieht und allenfalls in unseren bildhaften Vorstellungen Träumen oder Gefühlen konkrete Gestalt annimmt. Damit markiert das Tempelportal einen Zwischenraum und eine Schwelle, einen Übergang von dem physisch realen äußeren Raum unserer alltäglichen Erfahrung in den ebenso realen, jedoch imaginär-transzendenten Raum unserer von Gedanken, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen bestimmten seelisch-geistigen, emotionalen Innenwelt und ihrer soziokulturellen sowie kulturgeschichtlichen Prägungen.
Diese besondere Qualität des Tempelportals kennzeichnet nun eine ganze Serie von künstlerischen Arbeiten Marie Luise Gruhnes. Für diese Werke ist das Tempelportal gewissermaßen ein ideales Urmodell bzw. – im Sinne Platons – die zum dreidimensionalen Bild gewordene Form eines absoluten geistigen Prinzips. Anders als das Objekt auf dem Dachboden, das durch seine körperhaft-dreidimensionale Plastizität wie eine Architektur erschien, wirken die kleineren und überwiegend auch farbigen Objekte im Atelier auf den ersten, oberflächlichen Blick wie Tafelbilder. Auch ihre Binnenstruktur, die eine dem Tempelportal auf dem Dachboden ähnliche Struktur aufweist, lassen diese Objekte zunächst wie Abbilder bzw. bildhafte Vergegenwärtigungen des Tempelportals erscheinen. Doch die Assoziation mit einem Bild ist letztlich irreführend. Denn die vermeintlichen Bilder besitzen ebenfalls eine raumhaltige und raumbezogene Materialität und Präsenz, die sie als architektonische Körper und Objekte definieren und in ihrem Umfeld regelrechte „Objekt-Räume“ ausbilden.
Auffällig an diesen Objekten ist – neben den unterschiedlichen Proportionen der Portalöffnung und der verschiedenartigen Farbigkeit – darüber hinaus ihre Oberflächengestaltung, die niemals die dem Tempelportal auf dem Dachboden eigene glatte Makellosigkeit aufweist, sondern reliefartige Erhebungen, lineare Muster, Abschabungen und Polierungen oder gar textile Umhüllungen besitzt. Wer genau hinsieht, kann auch mehrere Farbschichten erkennen, unter denen sich teilweise ganz andere, nunmehr verdeckte Farb- und Materialzustände befinden. Bereits ohne größeres Vorwissen erkennt der Betrachter darin Spuren eines Werkprozesses, einer Werkgeschichte und ahnt, dass die Künstlerin mit ihren Objekten und deren Materialien einen Prozess, eine Entwicklung, vielleicht sogar ein Ringen durchlebt. Die Objekte beginnen – um einen vielzitierten Begriff der Kunstanalyse zu verwenden – gewissermaßen zu „sprechen“, werden dabei zugleich interaktiv und involvieren auch den Betrachter, konfrontieren ihn mit ihren spurenreichen Oberflächengestaltungen, ihrer Materialikonographie und – ganz wichtig – mit ihren fein abgestuften, von sehr dunklen bis ganz hellen Tönen reichenden Farbwerten. Diese erzeugen in uns Stimmungen, regen uns an oder auch auf, wecken heiter-harmonische aber vielleicht auch heftig-impulsive Emotionen.
Bereits Barnett Newman beschäftigte sich mit der psychischen Macht der Farben und schuf zwischen 1966 und 1970 eine Serie von Farbflächen-Bildern mit dem provozierenden Titel „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“. Wie Gruhne verstand auch Barnett Newman seine Bildwerke aufgrund ihrer geradezu körperhaften Ausstrahlung nicht einfach als „Bilder“ oder „Gemälde“, sondern als „Objekte“. Angesichts dieser aktivierenden Energie von Objekten, die sie zu regelrechten Agenten und Aktanten werden lässt, hat der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp den Begriff des „Bildakts“ entwickelt.
Andererseits ermöglicht der Vergleich von Gruhnes (und auch Newmans) Objekten mit Bildern eine höchst produktive Verbindung zur jahrhundertealten Deutungsgeschichte von Bildwerken als Gegenstände kontemplativer, spiritueller und transzendenter Erfahrung. In diese keineswegs komplikationsfreie, vielmehr von großen Spannungen und radikal ablehnender Kritik (bis hin zum „Bildersturm“) bestimmte Geschichte des Bildes reihen sich letztlich auch die Objekte Marie Luise Gruhnes ein. Sie sind damit Teil der Geschichte jener Bildwerke, die mit ihrer äußeren Form nicht nur einfach unterhalten, sondern den Betrachter zur inneren Einkehr, kreativen Muße oder auch bekehrenden Buße auffordern sollen. Dafür verlangen sie von den Betrachtern ein Bildverständnis, das sich nicht nur auf die materielle, aus Farben und Formen bestehende Wirkung konzentriert oder nach wiedererkennbaren, mimetisch dargestellten Gegenständen oder Bildmotiven sucht, sondern in den Bildwerken darüber hinaus Medien erkennt, mit deren Hilfe der Blick zugleich auf eine immaterielle, transzendente, philosophische oder gar religiös-spirituelle Dimension gelenkt werden kann. Bilder, die diesen Ansprüchen genügen und zugleich ästhetisch wie konzeptionell anspruchsvolle Kunstwerke sein sollen, haben dabei seit der Frühgeschichte des Bildes eine konfliktträchtige Voraussetzung zu berücksichtigen: die anthropologisch begründete Abhängigkeit des Menschen von bildhaften Vorstellungen und bildhaftem Denken und damit der unhintergehbare Vorrang bildlicher Imagination vor der intellektuell-geistigen Abstraktion.
Bereits im 13. Jahrhundert hat sich mit diesem Phänomen der Dominikaner Thomas von Aquin auseinandergesetzt und sich – neben einer Deutung der dabei relevanten Zusammenhänge zwischen Körper und Geist (anima forma corporis-Lehre) – auch mit dem Problem des in den Bildern „Gefangenseins“ beschäftigt. Aus einem theologisch-philosophischen Interesse heraus und hierbei an die Tradition der Bildkritik seit dem Frühchristentum anknüpfend, forderte er einen Umgang mit Bildern, der – vor allem wenn sie religiöse Inhalte vergegenwärtigen – in einem mehrstufigen Verfahren am Ende zu einer rein geistigen Schau der hinter den Bildern stehenden transzendenten Wirklichkeit und damit der göttlichen Wesenheit führt.
An dieser Stelle ergibt sich aber auch ein wesentlicher Unterschied zum Bildverständnis Marie Luise Gruhnes. Denn wenn auch in ihren Objekten Bezüge zu einer transzendenten, spirituellen Welt hergestellt werden sollen, so ist diese Welt doch zunächst nicht außerhalb der irdischen zu suchen, sondern in uns selbst vorhanden. So möchte Gruhne in ihren künstlerischen Arbeiten die in den Tiefen unserer Psyche und unseres kulturell und kulturgeschichtlich geprägten ‚Unbewusstseins‘ sowie Unterbewusstseins vorhandenen humanen Gestaltungskräfte wecken, oder, wie sie selbst formuliert, „einen Dialog mit dem, was unterhalb soziokultureller und damit auch kategorialer Erwartungen liegt, mit etwas, das uns darunter verbindet, nahe an unbewussten Prozessen in uns“ in Gang setzen.
So wie Thomas von Aquin und die christliche Bildtheologie mit Hilfe der Bilder ein übergeordnetes, absolutes und immerwährendes göttliches Prinzip (im Sinne des absolut Schönen und Guten) erfahrbar machen wollten, so ist es das Anliegen Gruhnes, absolute, archetypisch in allen Kulturen und zu allen Zeiten durch die Menschheitsgeschichte hindurch wirksame und in jedem Menschen angelegte Lebenskräfte – wie Ruhe, Zuversicht, Selbstvertrauen, Zuneigung, Empathie, Gestaltungskraft – mit Hilfe ihrer Bildwerke zu aktivieren und – im Sinne des Philosophen Julian Nida-Rümelin und seiner „Philosophie einer humanen Bildung“ – als Kraft des Humanen für die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Prozesse einer Gesellschaft zu erschließen. Dieses Anliegen bestimmt schließlich auch den künstlerischen Arbeitsprozess selbst, der, wie Gruhne ausführt, intuitiv und frei von vorgefassten bildlichen bzw. motivischen Vorstellungen ablaufen sollte – gewissermaßen als kontemplative „Absichtslosigkeit“ - und darin eine Nähe zur traditionsreichen künstlerischen Praxis der fernöstlichen, chinesischen Kalligrafie erkennen lässt.
Gruhnes künstlerische Auffassung steht damit in einer sehr langen Tradition, die nicht nur in der jüdischen und christlichen Bildkultur verankert ist, sondern darüber hinaus auch in vergleichbar differenzierten Bild- bzw. Zeichentheorien der chinesischen Kultur – hier vor allem auch des Konfuzianismus und Daoismus mit ihrer Lehre von einer sich permanent wandelnden Welt, die doch zugleich stabil in einer kosmischen Ordnung verankert ist.
Bei allen erkennbaren und für die Qualität der Objekte bedeutenden Traditionslinien in die Geschichte des Bildes und seiner Deutung verkörpern Gruhnes Objekte aber immer auch etwas Eigenes. Etwas Eigenes nicht zuletzt auch deshalb, da die Objekte mit ihren spezifischen Formen, Farben und materiellen Strukturen eine eigenständige, aus unserer heutigen Zeit und ihren Herausforderungen geborene Überzeugung sichtbar werden lassen, über die Notwendigkeit des Innehaltens, der „Verlangsamung“ und der Selbstbesinnung nicht nur zu reden und zu schreiben, sondern diese auch zu fühlen. Für diesen über das intellektuelle Verstehen hinausgehenden Prozess eines kontemplativen, vom Zustand des „Otium“ bzw. der „Muße“ ausgehenden Empfindens sollen Gruhnes Objekte sprichwörtlich als Türöffner dienen und so die Kunst als Medium der entschleunigenden (Selbst-)Wahrnehmung in einer Zeit des beschleunigten Wandels erfahrbar machen.
Der Verfasser ist Professor für Kunstgeschichte
an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
‘Verlangsamung‘ im Kunstforum der MVB – eine Inszenierung mit Werken von Marie Luise Gruhne.
Ein Interview von Sylvia Bernhardt, Bernhardt & Liebermann Contemporary Art, 15.07.2019
„Dädalus warnte seinen Sohn Ikarus bei seinem Flug über dem Meer darauf zu achten, nicht zu hoch und damit zu nahe an die Sonne heranzufliegen, denn hierdurch schmelze das Wachs, mit dem die Federn befestigt seien. Und er warnte ihn, nicht zu tief zu fliegen, da die Feuchtigkeit des Meeres in die Federn dringe und ihr Gewicht ihn dann nach unten ziehe…“ (Auszug aus dem begleitenden Ausstellungstext).
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